Der Blick des Dritten

Das Nicht-Eingebettet-Sein in der Natur, in angeborenen Strukturen, das fundamentale Angewiesensein auf Sprache weist darauf hin, dass der Beziehung des Kindes zum Dritten, wie sie sich zuerst in der Mutter-Kind-Beziehung zeigt, eine erstrangige Bedeutung zukommt. Erst die konkreten Interaktionen organisieren das hilflose Sein des kleinen Kindes, verleihen ihm im besten Fall eine Sicherheit, die nie vollständig sein kann. Es ist nicht bloss die verbale Sprache, die die kindliche Wahrnehmung strukturiert, hinzu kommen Gesten, die Stimme der Mutter und der anderen Personen, die das Kind mehr oder weniger freundlich empfangen und die ihr Begehren ausdrücken, das sie im Kind inkarnieren. Allein ihre Anwesenheit zeugt davon. Sie sind da, sprechen, spielen mit dem Baby - aber es kommt unvermeidlicherweise zu Momenten der Abwesenheit, in der sein Gefühl von Geborgenheit zutiefst bedroht wird. Erst die sich bildende Gewissheit - virtuell immer erschütterbar - dass die Abweseneheit eine vorübergehende sein wird, wird ihm helfen, sie zu ertragen. Dabei hinterlassen die Anwesenheiten und Interaktionen Erinnerungsspuren, die als innere Stimmen, Empfindungen und Bilder die äussere Leere überbrücken helfen.

Ursprünglich wird die Gewissheit, dass das Kind selber ist, existiert, dass es sich selber spürt, über die es pflegende Person, sagen wir der Einfachheit halber, über die Mutter vermittelt. Ihr Gesicht, ihre Stimme, ihre Haut, ihre Brust, ihr Blick, ihre Wärme sind lange Zeit notwendig für das Gedeihen des Kindes. Dass es einen Körper, Glieder hat, erfährt es erst durch die Mutter. Fingerverse ("Das ist der Daumen, der schüttelt Pflaumen....") stehen als Beispiel dafür, dass Benennungen und Interaktionen das Körperempfinden wecken und strukturieren.

Die Mutter stellt anfänglich für das Kind nicht etwas dar, was es als abgetrennt von sich wahrnehmen könnte, da es sich noch nicht als Einheit mit sich selber spürt. Die sich wiederholenden Interaktionen führen erst allmählich dazu - wenn sich mentale Strukturen gebildet haben -, dass es die Mutter von sich unterscheiden kann, dass es sie als andere erfährt, als Nicht-Ich. Das Spiegelstadium weist auf diesen entscheidenden Moment hin: Das Kind sieht sich aussen; es nimmt nicht nur seine eigene Gestalt wahr, sondern es erfährt seine Objektivation, d.h. es merkt, dass auch andere seine Gestalt sehen können - so wie es andere sehen kann.

Der Blick der Mutter, allgemein gesagt des Dritten, wird demzufolge wichtig. Wenn das Kind merkt, dass es sich sehen kann, dass aber auch andere es sehen können, wird früher oder später von selbst die Frage auftreten: Wie sehen sie mich? Wie bin ich für die anderen? Es möchte sich dann am liebsten mit den Augen der Mutter sehen, zumindest ihren Blick beeinflussen können. Es begehrt ihren Blick, was ihm durch das Gefallen-Wollen wahrscheinlich am besten gelingt.
Die Augen der Mutter, Ihr Blick - sie sind schon vor dem Auftauchen der kindlichen Frage, wie die Mutter es sieht, wichtig. Aber es merkt es nicht, da es gleichsam in das mütterliche Begehren eingewoben ist, von ihm umhüllt wird. Dass sich das Kind im Spiegel sehen kann, ist bereits Ausdruck ihres Begehrens; sie hätte die Macht, den Eintritt ins Spiegelstadium zu verhindern, schlimmstenfalls das Kind umzubringen, weil es sie immer an ihr Alter und ihren Zerfall erinnern wird, allein dadurch, dass es lebt. Sprechen wir von den Müttern, die es ertragen, sogar begehren, dass ein Kind aus ihrem Schoss entspringt, die seine Selbständigkeit sogar antizipieren, ihm soviel Liebe zuteil werden lassen, wie es braucht, um sich dereinst von ihnen zu lösen. Lacan spricht in diesem Zusammenhang vom Vater, in dessen Namen eine Mutter ein Kind selbständig werden lässt.

Selbst wenn diese Trennung antizipiert wird, welche Mutter möchte nicht ein ganz besonderes Kind haben und es auch zeigen? Für welche Mutter sind ihre Kinder nicht die schönsten? In diesem Begehren erkennt Lacan den Grund dafür, dass das Kind, wenn es sich im Spiegel erblickt, nicht seine Hilflosigkeit sieht, sondern seine Idealität, Vollkommenheit. Es ist nicht einfach die Identifizierung mit der Mutter, welche die Wahrnehmung des Kindes glorifiziert, sondern die Indentifizierung mit ihrem Wunsch, ein schönes und intelligentes Baby zu haben. Freud hat das bemerkt und deshalb von "his majesty the baby" gesprochen. Ein narzisstisches Band webt zwischen Mutter und Kind, auch eine Wechselseitigkeit, in der die gegenseitige Idealisierung das Abgründige des Alleinseins, das sich schon mit dem ersten Schrei manifestiert hat, vergessen lässt.


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