Aus „Subversion des Begehrens“
Einführung in Jacques Lacans Werk
von Peter Widmer (Psychoanalytiker in Zürich)

  

Das Begehren nach Einssein und sein Scheitern

Das Spiegelstadium lässt sich zwar einem bestimmten Lebensabschnitt zuordnen, aber es verliert nach dem 18. Lebensmonat seine Bedeutung nicht. Mit dem Eintritt ins Spiegelstadium ist eine psychische Struktur erreicht, die trotz weiterer Differenzierung andauern wird. Nichts zeigt dies besser als die Liebe. Die gegenseitige Idealisierung und die unablässige Suche nach Gemeinsamkeit weisen darauf hin, dass sich eines im anderen wie in einem Spiegel sehen möchte. Dabei gibt es keine festen Abgrenzungen des einen vom anderen. Es gibt ein Hin- und Herschaukeln des Ichs und seiner Wahrnehmung. In Momenten, in denen das eine nicht selber seines eigenen Existierens vergegenwärtigt, gleichsam das eigene Sein vergisst, und nur das andere sieht, tritt es an die Stelle des anderen. Es bemerkt dies in dem Augenblick, in dem es wieder „bei sich“ ist, sich von der Hingabe an das andere gelöst hat.

Dieses Vergessen, das sich im Zustand der Verliebtheit deutlich zeigt, geschieht deshalb, weil jedes Subjekt seinen eigenen Körper gewöhnlich nicht sieht, es ist anderen zugewendet. Es bewohnt seinen Körper, und darum ist er ihm fremd, fremder als die Gestalt des Gegenübers. Wird die eigene Selbstvergessenheit bemerkt, kann ein Gefühl entstehen, das bis zum Entsetzen reicht. Die Andersheit vom anderen, ihre Fremdheit, die das eigene Subjekt ausgrenzt, wird in voller Angst verspürt.

Nicht nur die Gestalt des Körpers ist diesen Schaukelbewegungen unterworfen, auch eigene Gedanken und Empfindungen werden zuerst aussen, bei anderen lokalisiert. Wie oft passiert es, dass ein Gedanke, eine Idee anderen unterstellt, dort anfänglich vielleicht sogar bekämpft wird, bis sich herausstellt, dass der Ort des anderen ein Hort eigener Vorstellungen war. Kann man dabei von Projektionen sprechen? Lacan vermeidet diesen Terminus, weil dabei unterstellt wird, dass sich zuerst innerlich etwas geformt hat, bevor es äusserlich wird. Er betont, dass es gesetzmässig so geschieht, dass das Gewährwerden dessen, was einem selber zugehört, den Weg über den anderen nimmt. Überspitzt gesagt: Der Ort des anderen ist gegenüber der eigenen Psyche keineswegs sekundär, sondern primär. Der eigene Vorrat an Gedanken, Ideen, Vorstellungen muss anderen entrissen werden. Von daher die Clinch-Situation in Beziehungen. Ein aggressives Moment stellt sich ein, in welchem das eine immer wieder zum Objekt des anderen degradiert zu werden droht.

Das Ideal der Liebe gerät auch ohne diese Erniedrigung in Konflikt mit sich selbst. Wenn für eine begrenzte Zeit das Gefühl der Einheit mit dem anderen Befriedigung verschafft, so verschwindet zugleich das Gefühl der Andersheit beim anderen. Auf die Frage des Einen kann es keine Antwort mehr des anderen geben,  da dieser als Verdoppelung wahrgenommen wird. Die Liebenden erfahren, dass die Andersheit des anderen, die zuvor die fehlende Harmonie verursachte, doch notwendig ist. Denn die Bestätigung kann nur von jemandem kommen, der nicht gleich ist. Die Liebe kann, zumindest in dieser Form, nicht vollkommen sein. Die daraus resultierende Spannung zwischen Begehren nach Einssein und dem nach Differenz verführt leicht zu einem Teufelskreis, zu einer endlosen Bewegung des Verschmelzen-Wollens und des anderen.

Das Ideal der Liebe verwandelt sich in Hassliebe, für die Lacan einen Term „erfunden“ hat, in dem er „haine“ (Hass) und „amor“ (Liebe) zu „hainamoration“ verdichtet hat – ein Term, in dem auch „enamoration“ (Verliebtheit) anklingt. Gewalt, Sadismus und Masochismus haben hier ihre Wurzeln. Das Ideal der Vollkommenheit hat eine Kehrseite, die im Extremfall tödliche Formen annehmen kann. Gibt es einen Ausweg aus dieser Hölle des anderen? Streit, heftige Auseinandersetzungen, Gedanken an Resignation oder gar Abbruch der Beziehung sind oft die Folgen. Aber was nahe am Scheitern ist, entpuppt sich manchmal als ein Aufsprengen der „Beziehungskiste“, wie diese Situation in der Alltagssprache treffend bezeichnet wird. Gegenseitige Unterschiede und die Andersheit des anderen werden allmählich akzeptiert. Dieser Vorgang kommt einer Trauerarbeit um das verlorene Ideal der vollkommenen Liebe, des ungetrübten Einsseins gleich – eine Trauerarbeit, die eine Beziehung erst leben lässt.

Erleidet die Liebe in dieser schwierigen Passage keinen Schiffbruch, so geht einiges verloren, anderes wird gewonnen. Das gegenseitige Annehmen der Andersheit des anderen weist darauf hin, dass der sprachlichen Beziehung eine neue Bedeutung zukommt. Die Sprache muss sich gleichsam in eruptiver Form aus der spiegelbildlichen Verstrickung der Liebenden befreien, Differenzen errichten, ein Subjekt („ich“) von einem anderen („du“) unterscheiden. Als trennende Instanz wirkt sie dem einenden Prinzip des Spiegelstadiums, dem Imaginären entgegen.


zurück