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Bevor der
Himmel einstürzt
Sie stolperte über den Asphalt, ohne zu wissen wohin. Die Sonne stand am
Himmel, als wäre nichts geschehen. Emilio hatte geschrien „dann hau doch ab
und komme nicht wieder zurück!“. Dieser Satz hallte in ihrem Kopf, von einer
Schläfe zur anderen, drehte sich im Kreis, immer schneller, immer schneller.
Ihr wurde schwindlig.
Nathalie drückte auf die Messingklinke und stemmte die Kirchentüre auf. Sie
war offen! Ruhiges Halbdunkel und der Geruch nach erloschenen Kerzen
empfingen sie. Wie kühl es hier war. Wie eigenartig. Wie still. Ausser ihren
Schritten auf dem Steinboden war nichts zu hören. Wie ferngelenkt zog es sie
nach vorne, zum Kreuzschiff, zu den Blumen, zum Altar. In der
zweitvordersten Reihe setzte sich Nathalie vorsichtig auf die Holzbank,
setzte die Füsse auf den unteren Balken und atmete durch.
Ich hatte in einer anderen Bankreihe gesessen und mich gerade erheben
wollen, als laute Schritte ertönten. Ich hielt inne. Eine junge Frau rückte
in mein Blickfeld. Sie schien ganz in ihre Welt versunken zu sein und
bemerkte mich nicht. Die Holzbank knarrte leise, als sie sich setzte. Einige
Augenblicke sass die Unbekannte still da. Plötzlich begannen ihre Schultern
zu beben und sie schlug die Hände vor das Gesicht. Ich konnte sie
betrachten, vorsichtig und ein bisschen verwundert. Keine halbe Stunde zuvor
war ich selber so da gesessen… War es Zufall, dass wir fast im gleichen Augenblick aufstanden und langsam gegen den Ausgang schritten? Als eher zurückhaltende Person spreche ich fremde Personen selten an. Doch dieser Moment war ein spezieller. „Entschuldigen Sie, ich habe die nächsten zwei Stunden nichts besonderes zu tun und möchte gern auf der Casino-Terrasse ein Kaffee trinken gehen“, sagte ich. „Haben Sie Lust mitzukommen?“ Die junge Frau blickte mich an, zögerte, und nickte: „Gut. Ich habe auch Zeit. Ich komme mit“. Unterwegs über die Bundesterrasse sprachen wir nicht viel. Das Wissen um den gemeinsamen Aufenthalt in der Kirche verband uns, wortlos. Ich weiss nicht mehr, wie lange wir unter den alten Bäumen im Casino sassen. Nathalie erzählte mir, warum sie in der Kirche war. Sie schilderte ihre Zweifel, ihren Kummer, ihre Wut und ihren letzten Streit mit Emilio. Sie sagte: „Du bist älter und hast Erfahrung. Was soll ich jetzt tun?“ Ich schüttelte den Kopf: „Zwar bin ich einiges älter als du, aber in meiner Ratschachtel sieht es mager aus. Ich bin alles andere als eine Beziehungsmeisterin. Mein Boot landet oft im Schilf. Aber ich kann dir die Adresse einer kirchlichen Partnerschaftsberaterin, ganz in der Nähe, geben. Ich schätze sie sehr.“ Nathalie steckte den Zettel mit der Adresse in die Tasche. Eine Zeitlang schwiegen wir.
„Ist es nicht seltsam, dass ich immer wieder in einer Kirche lande?“
Nathalie beugte sich über ihr Glas. „Eigentlich gehe ich nicht absichtlich
dorthin. Genau wie heute. Ich habe ja gar keine Beziehung mehr zu Gott. Aber
oft, wenn ich nicht mehr weiter weiss und das Leben weh tut, lande ich in
einer Kirche. In irgendeiner. Dort kann ich einfach ungehemmt traurig sein.
Aber noch viel merkwürdiger ist, dass ich dann später „uf e Geissart“ zur
Ruhe komme. Vielleicht liegt es an der besonderen Kirchenatmosphäre? Was
täte ich ohne offene Kirchentüren! Unvorstellbar!“ Zurück zur Gegenwart. Auf dem Tisch vor mir die Tastatur, im Fensterrahmen das Inselspital, ein hohes Swisscom-Gebäude und - die Friedenskirche. Ich denke an Nathalie. Emilio und sie haben sich, nach gemeinsamen Besuchen der Partnerschaftsberatung, getrennt. Ich hörte schon lange nichts mehr von ihr. Aber solange es offene Kirchenhäuser gibt, muss ich mir keine allzu grossen Sorgen um sie machen. Danièle Eggenschwiler
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